
Magistrat Wien überholt in Einklang mit EU-Recht den Verfassungsgerichtshof
Wien-Bochum | Während die Höchstgerichte noch zu unseren Genderklagen und somit die rechtliche Ankerkennung nicht-binärer Menschen in Österreich zu entscheiden haben, hat das Magistratische Bezirksamt Wien 15/16 unterdessen bereits den ersten Reisepass für eine nicht-binäre Person in Österreich ausgestellt. Der korrigierte Geschlechtseintrag von Emil lautet nunmehr divers und der zugehörige Pass zeigt ein X. Bisher gab es das nur für inter* Personen.
Kein Geschlechterwechsel beim Grenzübertritt
Möglich macht das ganze ein deutscher Wohnsitz sowie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Oktober 2024 (EuGH C-4/23 – Mirin). Das Höchstgericht stellte fest, dass Geschlechts- und Namensänderungen, die in einem EU-Land durchgeführt wurden, von allen anderen EU Ländern akzeptiert werden müssen: Eine EU – ein Geschlecht. EU Bürger*innen genießen Reise- und Niederlassungsfreiheit und können abweichend zum Personenstandsrecht ihres Angehörigkeitsstaats (Staatsbürger*innenschaft) auf jenes ihres Ansässigkeitsstaats (Wohnsitz) optieren. In diesem Fall erfolge die Änderung des Geschlechtseintrags nach dem deutschen Selbstbestimmungsgesetz. Der Beschluss des Standesamts Bochum führt aber im ersten Schritt nur zu einer Änderung der Daten in Deutschland.
Die Korrektur des Geschlechtseintrags in Österreich ist ein zweiter Schritt, der durch die zuständige heimische Personenstandsbehörde durchgeführt werden muss. Im entsprechenden Antrag an das Magistrat Wien schreibt Emil zum nunmehr abweichenden Geschlechtseintrag:

„…das führt zu der absurden Situation, dass ich momentan zwei verschiedene Geschlechtseinträge innerhalb der EU habe – sich mein legales Geschlecht also wöchentlich beim Grenzübertritt ändert.“ – Emil R. (30)
Dass dieser Status menschenrechtlich unzumutbar ist, hatte der EuGH bereits festgestellt. Die Behörde hat daher in Einklang mit EU-Recht den Eintrag korrigiert und somit erstmalig rechtskräftig einen nicht-binären österreichischen Pass ausgestellt.
Geschlechtliche Quantenmechanik
Rechtlich eintragungsfähig sind in Österreich zurzeit sechs Geschlechtseinträge (weiblich, männlich, divers, inter, offen, kein Eintrag) – über einen siebten entscheidet der VwGH (nicht-binär). Ebenso strittig und durch den VfGH zu klären ist die Frage, ob der Geschlechtseintrag auf der Geschlechtsidentität oder den (bei der Geburt) festgestellten Geschlechtsmerkmalen basiert. Für die Einträge m und w gilt aktuell die Geschlechtsidentität, alle anderen setzen körperliche Merkmale in Form von Intergeschlechtlichkeit voraus (österreich.gv.at). D.h.
- (Binäre) Trans Personen (Geschlechtsidentität weicht vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht ab) können mit einer psychotherapeutischen Stellungnahme von weiblich zu männlich bzw. umgekehrt wechseln.
→ Das Gegenteil von trans (jenseits) ist cis (diesseits). - Inter* Personen (Varianten der Geschlechtsentwicklung, d.h. körperliche Geschlechtsmerkmale ensprechen nicht den „klassischen Idealen“ eines rein männlichen oder weiblichen Körpers) können mit einem Fachgutachten (zu ihrer chromosomalen, anatomischen und/oder hormonellen Entwicklung) ihren Eintrag auf inter, divers, offen oder keinen Eintrag ändern.
→ Das Gegenteil von inter* (zwischen) ist endo (innerhalb). - Nicht-binäre (endo) Personen (Geschlechtsidentität weicht vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht ab, Person wird aber aufgrund ihrer chromosomalen, anatomischen und/oder hormonellen Entwicklung durch die Behörde dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet) können ihren Geschlechtseintrag aktuell nicht ändern. Dagegen richten sich die Genderklagen (Anträge auf Streichung, divers und nicht-binär)
→ Das Gegenteil von nicht-binär ist binär
Der Eintrag im Reisepass leitete sich vom Eintrag im Personenstandsregister ab
- Personenstandsregister: weiblich, männlich, inter, divers offen, kein Eintrag
- Reispeass: W (weiblich), M (männlich), X (inter, divers offen, kein Eintrag)
- Nicht binäre Personen können ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister aktuell nicht ändern, bekommen daher auch nur einen Pass mit M oder W.
Diese Diskussion ist nun um eine Facette reicher geworden: So ist neben körperlichen und psychischen Aspekten offenbar der Wohn- bzw. Aufenthaltsort der Person ein maßgeblicher Einflussfaktor für die Beurkundung des Geschlechtseintrags. In diesem Fall, hat die antragstellende Person (als einzige) die österreichische Staatsbürger*innenschaft; Doppel- bzw. Mehrfachstaatsbürger*innen wären mit einer noch komplexen Situation konfrontiert, vor allem wenn dabei ein Nicht-EU-Land die Korrektur grundsätzlich ablehnt oder sogar unter Strafe stellt.
Nicht-binäre Menschen sehen sich also mit einer Situation konfrontiert, die aus Quantenmechanik bekannt ist: Die Messung verändert das zu messende System. So ist das rechtliche Geschlecht aktuell weniger vom Geschlecht der Person, als viel mehr vom Land, das es einträgt, abhängig.
Keine Universallösung
Einen Wohnsitz in einem anderen EU-Land muss mensch anmelden, sofern mensch beabsichtigt, sich länger als drei Monate in diesem Land aufzuhalten. In Deutschland gilt weiters eine dreimonatige Wartefrist ab Antragstellung auf Korrektur. Mit einem kurzen Ausflug übers Deutsche Eck ist es also nicht getan, denn eine rechtliche Wohnsitzverlagerung ohne tatsächlichen Aufenthalt (Scheinanmeldung) ist strafbar und stellt einen Meldebetrug dar.
Für alle im Inland lebenden Österreicher*innen bzw. dem österreichischen Personenstandsrecht unterworfenen nicht-binären Menschen heißt es also weiter „bitte warten“.
Foto: © CC BY Venib – Verein Nicht Binär
(Fotomontage, Originalunterschriften wurden aus Datenschutzgründen ersetzt)