Es ist eine österreichische Tradition, LGBTIAQ+ Rechte zur erklagen, statt im Parlament zu beschließen. So ist auch die Geschichte der nicht-binären Geschlechtseinträge eine Sammlung von Gerichtsentscheidungen. Ein Überblick:
Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs
‣ Betreffend Geschlechtseinträge abseits von männlich und weiblich
(VfGH vom 15.06.2018 – VfGH G77/2018)
Zum Verfahren betreffend die inter* Person Alex Jürgen siehe: Homepage des Rechtskomitee Lambda
Erkenntnisse der Landesverwaltungsgerichte
mit denen Geschlechtseinträge von Personen, die trans, aber nicht inter* sind, auf Einträge abseits von „männlich“ und „weiblich“ abgeändert wurden:
‣ Änderung des Geschlechtseintrages von „weiblich“ auf „divers“
(LVwG Steiermark 20.12.2021 – LVwG 41.8-1712/2021)
‣ Änderung des Geschlechtseintrages von „weiblich“ auf „nicht-binär“
(LVwG Wien 26.1.2023, VGW-101/V/032/11370/2022)
‣ Änderung des Geschlechtseintrages von „männlich“ auf „divers“, Selbstbestimmter Geschlechtseintrag
(LVwG Wien 20.2.2023, VGW-101/007/15504/2022-4, derzeit noch nicht im RIS publiziert)
Aus den Entscheidungsgründen des mündlich verkündeten Erkenntnisses:
Rechtliche Beurteilung
Der VfGH befasste sich in einem Erkenntnis 15.06.2018, G 77/2018 (= VfSlg. 20.258/2018) mit einer offen als zwischengeschlechtlich lebenden Person Person, die bei der zuständigen Personenstandsbehörde unter anderem beantragte, die sie betreffende Eintragung im Zentralen Personenstandsregister (im Folgenden: ZPR) gemäß § 42 Abs. 1 und 3 Personenstandsgesetz 2013 (PStG 2013) dahingehend zu berichtigen, dass ihr – bisher auf „männlich“ lautender – Geschlechtseintrag auf „inter“, in eventu auf „anders“, in eventu auf „X“, in eventu auf „unbestimmt“, in eventu auf einen mit diesen Begriffen sinngleichen Begriff zu lauten habe.
Der VfGH hat hierzu ausgeführt, dass kein Zwang zur Eintragung einer vorgegebenen Geschlechtsidentität besteht und Art. 8 EMRK es ermöglicht eine individuelle Geschlechtsidentität auch in öffentlichen Registern zum Ausdruck zu bringen. Eine selbstbestimmte Festlegung der Geschlechtsidentität steht jeder Person offen. Unabhängig davon, ob Intersexualität oder Transidentität vorliegt, hat der Staat die individuelle Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Geschlecht zu respektieren (siehe insb. VfGH 15.06.2018, G 77/2018, Rz. 15 und 23).
Für den Beschwerdefall bedeutet dies, dass die Beschwerde berechtigt ist:
Der Begriff „Identität“ beschreibt, wie sich eine Person selbst definiert und welche Eigenheiten sie in ihrem Selbstverständnis als wesentlich erachtet. In der Geschlechtsidentität drückt sich aus, welchem Geschlecht sich eine Person zugehörig fühlt (https://www.wien.gv.at/menschen/queer/transgender/geschlechtsidentitaet.ht ml).
Die §§ 41 und 42 PStG 2013 ermöglichen nach Abschluss der Eintragung eine Änderung, Ergänzung und Berichtigung der Eintragung: Eine Eintragung ist zu ändern, wenn sie nach der Eintragung unrichtig geworden ist; im Falle ihrer Unvollständigkeit zu ergänzen, sobald der vollständige Sachverhalt ermittelt worden ist; und zu berichtigen, wenn sie bereits zur Zeit der Eintragung unrichtig gewesen ist (VfGH 15.06.2018, G 77/2018, Rz. 11).
Zweck der Eintragungsform eines „dritten Geschlechtes“ ist, dass keine Person genötigt wird, eine Zuordnung alleine zu den Geschlechtszuschreibungen „männlich“ oder „weiblich“ vorzunehmen. Dies ergibt sich aus dem zitierten Erkenntnis des VfGH.
Würde man die Vornahme einer „Zuordnung“ dahingehend verlagern, dass nicht eine Person selbst, allerdings ein Dritter auf Basis eines psychiatrischen Gutachtens oder anderer Unterlagen eine Zuordnung vornehmen oder beurteilen müsste, würde der Zweck der zu respektierenden individuellen Entscheidung unterlaufen.
Eine selbstbestimmte Festlegung der Geschlechtsidentität hat durch bloße Willenserklärung zu erfolgen. Auch in der Beschwerdekonstellation und im Rahmen der anwendbaren Bestimmungen (§ 36 Abs. 2 PStG 2013 iVm §§ 37 und 39 AVG) gilt die Freiheit der Beweismittel (vgl. zur Beurteilung nach freier Überzeugung gemäß § 45 Abs. 2 AVG etwa VwGH 15.12.2021, Ra 2021/12/0039; VwSlg. 6489 F/1990).
Es ist daher im Beschwerdefall nicht erforderlich, einen Sachverhalt über die individuelle Entscheidung (Selbstbeschreibung) hinaus zu ermitteln. Insbesondere ist es nicht erforderlich durch ein neurologisches/psychiatrisches Gutachten über den Kleidungsstil, Haarschnitt, klischeehafte Einordnungskategorien oder sonstige persönliche Umstände (siehe die „Anamnese“ in der vorliegenden fachärztlichen Stellungnahme) „Beweise“ zu erheben.
Sofern sich die belangte Behörde bei ihrer Vorgangsweise auf einen entgegenstehenden, mit dieser Rechtsansicht nicht übereinstimmenden Erlass des Bundesministers für Inneres stützte, ist dieser Erlass rechtswidrig.
Die begehrte Änderung des Geschlechtseintrages lautend auf „divers“ ist geeignet, die individuelle Geschlechtsidentität der beschwerdeführenden Partei adäquat zum Ausdruck zu bringen. Die Bezeichnung „divers“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch anerkannt, etwa in Deutschland als Rechtsbegriff in Verwendung (§ 22 Abs. 3 dt. Personenstandsgesetz) und auch aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ergibt sich die Zulässigkeit dieses Begriffes (siehe nochmals VfGH 15.06.2018, G 77/2018, sowie VwGH 14.12.2018, Ro 2018/01/0015, zu „inter“). Das PStG steht der begehrten Eintragung (Geschlechtseintrag von „männlich“ auf „divers“ zu ändern) somit nicht entgegen.
Es war daher der verfahrenseinleitende Antrag berechtigt. Der angefochtene Bescheid ist daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben und es ist die beantragte Änderung des Geschlechtseintrages von „männlich“ auf „divers“ im Zentralen Personenstandsregister zu verfügen (vgl auch VwGH 14.12.2018, Ro 2018/01/0015, Rz 34). Die ordentliche Revision an den VwGH ist insoweit zulässig, als Rechtsprechung zu der Frage, ob zur Ermittlung einer selbstbestimmten Wahl der Geschlechtsidentität über die entsprechende Willenserklärung hinaus (siehe oben mit Hinweis auf § 36 Abs. 2 PStG 2013 und §§ 37 und 39 AVG) weitergehende Sachverhaltsfeststellungen zu treffen sind, sowie eine explizite Verfahrensbestimmung (vgl. § 45b dt. PStG) fehlen. Im Übrigen ist die Revision nicht zulässig, weil sonst keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (zur Zulässigkeit des Eintrages „divers“). Weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Die Rechtslage ist aufgrund der Gesetzeslage klar und durch die angeführte Rechtsprechung geklärt (VwGH 14.12.2018, Ro 2018/01/0015, und VfGH 15.06.2018, G 77/2018). Die dargestellten Grundsätze der Sachverhaltsermittlung (siehe oben zu § 36 Abs. 2 PStG 2013 iVm §§ 37 und 39 AVG) sind im Übrigen für die im Beschwerdefall zu lösenden Rechtsfragen ausreichend.
VWG-101/007/15504/2022-4
Judikatur des EGMR zur Personenstandsänderung für trans Personen allgemein
Verfügbar in der Datenbank des EGMR unter https://hudoc.echr.coe.int/eng:
- Sheffield and Horsham v. the United Kingdom [GC], 22985/93 und 23390/94, 30 July 1998
- Christine Goodwin v. the United Kingdom [GC], 28957/95, 11 July 2002
- S.A.S. v. France [GC], 43835/11, 1 July 2014
- Hämäläinen v. Finland [GC], 37359/09, 16 July 2014
- A.P., Garçon and Nicot v. France, 79885/12 et al., 6 April 2017
- S.V. v. Italia, 55216/08, 11 October 2018
- Y.T. v. Bulgaria, 41701/16, 9 July2020
- X and Y v. Romania, 2145/16, 19 January 2021
- Y v. France 76888/17, 31 January 2023
FAQ
① Was ist eine Personenstandsänderung?
Eine Personenstandsänderung bedeutet die Änderung des Geschlechtseintrags im Zentralen Personenstandsregister. Durch Änderung des Personenstands (vormals „Geburtenbuch“) wird man offiziell im gelebten Geschlecht anerkannt und kann passende Dokumente erhalten. Die Personenstandsänderung ist eine Voraussetzung, um rechtlich, also etwa vor Ämtern und Behörden, am Arbeitsplatz und bei der Sozialversicherung im eigenen Geschlecht anerkannt zu werden. Es ist sehr schwer, etwa einen neuen Arbeitsplatz zu finden, wenn die Dokumente nicht mit dem sichtbar gelebten Geschlecht übereinstimmen. Auch für die soziale Akzeptanz im privaten Bereich ist die Personenstandsänderung oft hilfreich (siehe https://www.wien.gv.at/menschen/queer/transgender/geschlechtswechsel/rechtlich/personenstand.html)
② Wie kann eins den Personenstand ändern?
Eine Änderung des Personenstandes ist beim Standesamt durchzuführen.
Voraussetzung zur Bewilligung der Personenstandsänderung ist eine Stellungnahme einem*einer Fachärzt*in für Psychiatrie ODER einem*einer Psychotherapeut*in ODER einem*einer klinischen Psycholog*in, das Folgendes enthält:
- Die Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0)
- Die Erklärung, dass ein Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht besteht und dieses aller Voraussicht nach weitgehend irreversibel ist
- Die Mitteilung, dass eine deutliche Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts zum Ausdruck kommt.
In Wien wird für den Beleg des Zugehörigkeitsempfindens die Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0) NICHT benötigt, sondern nur obiger 2. und 3. Punktm (siehe https://chaingepeergroup.at/namens-und-personenstandsanderung/).
③ Was ändern diese neuen Gerichtserkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Wien?
Bisher war es nur für intergeschlechtliche Personen möglich, ihren Geschlechtseintrag auf „divers“ (oder „inter“ oder „offen“) zu berichtigen. Dafür war ein fachärztliches Gutachten notwendig, das die Intergeschlechtlichkeit bestätigte.
Dieses Gutachten verlangt das Standesamt aufgrund der „Durchführungsanleitung für standesamtliche Arbeit“ des Bundesministeriums für Inneres. An die muss das Standesamt als untergeordnete Behörde sich halten. In dieser Durchführungsanleitung heißt es: „Konkret geht es (Anm. bei der Änderung des Geschlechtseintrages auf „divers“, „inter“ oder „offen“) um nachweisbare Varianten der Geschlechtsentwicklungen, die sich durch eine atypische Entwicklung des chromosomalen, anatomischen oder hormonellen Geschlechts kennzeichnen und explizit nicht um Transidentität (dh. jemand, der genetisch oder anatomisch bzw. hormonell eindeutig einem anderen Geschlecht zugewiesen ist, sich dadurch aber falsch oder unzureichend beschrieben fühlt).“
Für Transpersonen war also der Eintrag „divers“ nicht zugänglich. Mit dem Erkenntnis des LVwG Wien vom 20.2.2023, VWG-101/007/15504/2022-4 wurde einer Person aufgrund ihrer Geschlechtsidentität die Änderung des Geschlechtseintrages auf „divers“ bewilligt.
Den Geschlechtseintrag „nicht-binär“ gab es bisher noch nicht. Mit dem Erkenntnis des LVwG Wien vom 26.1.2023, VGW-101/V/032/11370/2022 wurde einer Person erstmals aufgrund ihrer Geschlechtsidentität die Änderung des Personenstandes auf „nicht-binär“ bewilligt.
Im Erkenntnis des LVwG Wien vom 20.2.2023, VWG-101/007/15504/2022-4 heißt es außerdem: „Es ist daher im Beschwerdefall nicht erforderlich, einen Sachverhalt über die individuelle Entscheidung (Selbstbeschreibung) hinaus zu ermitteln. Insbesondere ist es nicht erforderlich durch ein neurologisches/psychiatrisches Gutachten über den Kleidungsstil, Haarschnitt, klischeehafte Einordnungskategorien oder sonstige persönliche Umstände (siehe die „Anamnese“ in der vorliegenden fachärztlichen Stellungnahme) „Beweise“ zu erheben“, das heißt, das Gericht erachtete das bis jetzt erforderliche Gutachten/ die erforderliche Stellungnahme für eine Personenstandsänderung von Transpersonen für irrelevant.
Die neuen Erkenntnisse des LVwG Wien sind jedoch nicht rechtskräftig.
④ Kann ich meinen Personenstand jetzt auf „divers“ oder „nicht-binär“ ändern?
Das ist leider nach wie vor nicht so einfach.
Die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Wien sind nicht rechtskräftig, das heißt, das Bundesministerium für Inneres kann eine Amtsrevision gegen sie erheben. Dann liegt es am Verwaltungsgerichtshof, zu entscheiden, ob die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Wien korrekt waren.
Für das Standesamt gilt außerdem nach wie vor die „Durchführungsanleitung für standesamtliche Arbeit“, allein deshalb kann das Standesamt eine Änderung des Geschlechtseintrages auf „divers“ oder „nicht-binär“ für Transpersonen nicht bewilligen.
Das heißt, du würdest einen negativen Bescheid vom Standesamt bekommen, gegen den du Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht erheben müsstest.
Vor dem Hintergrund, dass es gerade anhängige Gerichtsverfahren betreffend die Änderung des Personenstanes auf „nicht-binär“, „divers“ (siehe oben) sowie die Streichung des Geschlechtseintrages gibt, kann es aber lohnenswert sein, abzuwarten, bis diese Gerichtsverfahren rechtskräftig entschieden sind, dann musst du nicht durch ein ganzes Gerichtsverfahren.
Solltest du überlegen, einen Antrag zu stellen oder weitere Fragen haben, nimm gerne Kontakt mit uns auf.
Wir halten euch am Laufenden darüber, ob es Fortschritte in den Gerichtsverfahren gibt und werden die Lage dementsprechend neu evaluieren.
⑤ Ich möchte meinen Geschlechtseintrag auf „männlich“ oder „weiblich“ ändern. Muss ich ein Gutachten oder eine Stellungnahme vorlegen, die meine Transidentität bescheinigen?
In LVwG Wien vom 20.2.2023, VWG-101/007/15504/2022-4 hat das Landesverwaltungsgericht Wien die Vorlage von Gutachten nicht für notwendig erachtet und sich für einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag ausgesprochen.
Auch hier gilt aber: Das Erkenntnis ist noch nicht rechtskräftig. Es ist daher davon auszugehen, dass Standesämter für eine Personenstandsänderung nach wie vor Gutachten bzw. Stellungnahmen verlangen. Solltest du überlegen, dennoch ohne Gutachten oder Stellungnahmen einen Antrag zu stellen oder weitere Fragen haben, nimm gerne Kontakt mit uns auf.
⑥ Was sind die Folgen der Gerichtserkenntnisse für andere Gesetze, die z.B. auf binäre Geschlechter abstellen?
Hier adäquate Regelungen zu schaffen, ist schon seit der Ermöglichung von Geschlechtseinträgen abseits von männlich und weiblich für intergeschlechtliche Personen angezeigt. Wie diese Regelungen aussehen werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt aber schwer zu sagen.